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Berliner Ärzte, Bd. 37, Heft 2, 18-20 (2000)
Funktionelle psychosomatische Erkrankungen
Medizinische Kompetenz
erforderlich
Von Bernhard Palmowski
Zusammenfassung. Funktionelle psychosomatische Erkrankungen führen oft
zu einem hohen Maß an stationärer und medikamentöser Fehlversorgung. Inadäquate
psychotherapeutische Behandlung und eine ineffiziente, da oft mehrgleisig
zerfaserte und diskontinuierliche ambulante Betreuung gehören hier leider zur
Tagesordnung. Grundvoraussetzung für eine zweckmäßige und wirtschaftliche
Versorgung dieser Patienten ist es jedoch, dass der behandelnde Arzt sowohl über
die entsprechende medizinisch/somatische wie über die erforderliche
psychotherapeutische Kompetenz verfügt. Denn die unglücklicherweise weit
verbreitete Vorstellung des einmaligen Ausschlusses pathologisch-anatomischer
Veränderungen oder histologischer Befunde mit dem Ziel, dann ungestört eine
psychotherapeutische Behandlung durchführen zu können, geht an der Realität
des medizinischen Alltags völlig vorbei. Eine fundierte
somatisch-internistische Qualifikation des behandelnden Arztes ist nicht nur im
Rahmen der diagnostischen Abklärung, sondern im gesamten Behandlungsverlauf
eines funktionellen Krankheitsbildes erforderlich.
Drei Fallbeispiele aus
dem kardio-pulmonalen Spektrum funktioneller Erkrankungen sollen dies
verdeutlichen.
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Patient 1
Ein 48-järiger
Ingenieur, verheiratet, zwei Kinder, stellt sich wegen einer
neurotischen Depression, eines ausgeprägten Hyperventilationssyndroms
sowie eines labilen Hypertonus vor. Die bereits vorbestehende Symptomatik
hatte sich im Rahmen einer zum Teil sehr aggressiven ehelichen
Trennungsauseinandersetzung in den letzten sechs Monaten progredient
massiv verstärkt. Es wird die Indikation zu einer analytischen
Psychotherapie gestellt, die der Patient dann auch bald beginnt. Nach
circa drei bis vier Wochen kommt es überraschend zu einer erheblichen
Zunahme der Atemnotbeschwerden. Dies beunruhigt den Patienten derart, dass
er ernsthaft in Erwägung zieht, die analytische Therapie zu beenden. Wie
üblich war er zu Beginn der Behandlung aufgeklärt worden, dass es vorübergehend
zu einer Verschlechterung der Symptomatik kommen kann. Die Intensität des
Geschehens hat den Patienten jedoch in hohem Maße verunsichert und er
glaubt, dass die Verschlechterung seines Beschwerdebildes wahrscheinlich
mit den in Bewegung kommenden inneren Vorgängen im Rahmen der Analyse ursächlich
verknüpft ist. Zu diesem Zeitpunkt steht die Behandlung unmittelbar auf
der Kippe. |
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Zu Kasuistik 1
Bei dem ersten Patienten ergab die vertiefte Exploration, dass es in der Tat zu
einer erheblichen Zunahme der Intensität seiner Atemnotbeschwerden gekommen
war. Gleichzeitig hatte sich jedoch der Charakter und das zeitliche Auftreten
der Symptomatik verändert. Hatte er ursprünglich seine Beschwerden, überwiegend
in körperlicher Ruhe, so beim Essen oder beim Fernsehen, so traten die
Beschwerden nun verstärkt bei körperlicher Belastung auf. Beispielsweise
musste er beim Hockeyspielen immer wieder stehen bleiben, um Luft zu holen und
hatte auch zunehmend Probleme beim Treppensteigen. Darüber hinaus hatte er
zweimal nachts aus dem Schlaf heraus einen solchen Anfall erlitten. Aufgrund
dieser Beschwerdeschilderung musste bereits vermutet werden, dass es sich nicht
um ein Geschehen allein im Rahmen eines Hyperventilationssyndroms handeln
'konnte. Die Auskultation des Patienten ergab ausgeprägte trockene Rasselgeräusche
im Sinne von Giemen und Pfeifen. Der ebenfalls gemessene Peak flow war deutlich
reduziert. in diesem Kontext war von dem Patienten in Erfahrung zu bringen, dass
er kürzlich von einem befreundeten Arzt gegen seinen Bluthochdruck anstatt des
bisher unzureichenden Diuretikums einen Betablocker verordnet bekommen hatte.
Aufgrund der erhobenen Befunde und des bekannten Nebenwirkungsspektrums
betablockierender Substanzen wurde die dringende Verdachtsdiagnose einer
medikamentös induzierten akuten obstruktiven Ventilationsstörung, gestellt.
Die betablockierende Behandlung wurde unverzüglich beendet und durch eine
Therapie mittels Calciumantagonisten ersetzt. Hierdurch konnte eine vollständige
Unterbrechung der obstruktiven Ventilationsstörung erreicht werden. Die
Atemnotbeschwerden des Patienten erreichten wieder das bisher von ihm gekannte
Ausmaß und führten dazu, dass der Patient außerordentlich erleichtert seine
analytische Behandlung fortsetzen konnte. Der weitere Verlauf auch in Bezug auf
die Atemnotbeschwerden des Patienten war sehr positiv.
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Patient 2
Der
35-jährige Kfz-Schlosser, verheiratet, zwei Kinder, wird zur Abklärung der
therapeutischen Möglichkeiten bei Verdacht auf Herzphobie überwiesen, Seit
circa zwei Jahren hatte er auf Grund rezidivierender akuter linksthorakaler
Schmerzzustände immer wieder die Notaufnahmestation verschiedener Kliniken
aufgesucht, war mehrere Wochen kardiologisch stationär gewesen und wurde
schließlich trotz zweier unauffälliger Ergometrien einer
Koronarangiographie unterzogen, die wie alle bisherigen Untersuchungen
ebenfalls keinen pathologischen Befund ergab, Nur unter erheblichem
Vorbehalt hatte der stark somatisch fixierte Patient in den Vorschlag zu
einer psychosomatischen Konsultation eingewilligt. Während der
diagnostischen Termine kam es zu einem erneuten schweren Anfall, anlässlich
dessen ein weiteres EKG geschrieben wurde. Dieses wies nun zur Bestürzung
des Patienten pathologische Veränderungen im Sinne von Repolarisationsstörungen
auf und drohte die beginnende Motivation in Richtung einer
psychotherapeutischen Intervention zu torpedieren.
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Zu Kasuistik 2
Trotz des auffälligen EKG waren die Beschwerden des Patienten in Charakter und
zeitlichem Auftreten identisch geblieben. Es bestand - wie bisher - keinerlei
Belastungsabhängigkeit und der Schmerz war eher stechend bis brennend. In der
weiteren Abklärung dieses akuten Ereignisses berichtete der Patient, dass die
Familie vor wenigen Tagen praktisch geschlossen habe zu Hause bleiben müssen.
Hintergrund war ein besonders bei dem Patienten sehr heftiger Magen-Darm-Infekt.
Er habe zeitweise kaum von der Toilette heruntergekonnt. Es musste die
Verdachtsdiagnose einer hypokaliämisch bedingten ST-Strecken-Senkung gestellt
werden. Der Serumkaliumwert lag in der Tat unter 2,5 mV/L. Nach medikamentöser
Kompensation mit Normalisierung des Serumkaliumspiegels zeigte das EKG wieder
einen unauffälligen Stromkurvenverlauf. Der Patient ließ sich, wenn auch
erkrankungsbedingt mit der entsprechenden Skepsis, von den pathophysiologischen
Zusammenhängen überzeugen und konnte die Zusammenarbeit in Richtung einer
psychotherapeutischen Intervention fortsetzen.
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Patient 3
Ein 45-jähriger Bankangestellter, ledig, kinderlos, in einer homosexuellen
Partnerschaft lebend, wird von seinem behandelnden Kardiologen überwiesen.
Der Patient hat vor einiger Zeit einen kleinen Hinterwandinfarkt gehabt.
Koronarangiographisch wurde eine ausgeprägte Stenose im Rahmen des
circumflexus gefunden. Daraufhin wurde eine PTCA (perkutane transfemorale
coronare Angioplasie) mit Dilatation der Stenose und anschließender
Stent-Implantation durchgeführt. Der Patient hatte vor dem Eingriff eine
klassische Angina pectoris mit belastungsabhängigem retrosternalem
Oppressionsgefühl gehabt. Diese Beschwerden waren nach der Ballondilatation
vollständig verschwunden, was den Patienten mit großer Erleichterung und
neuer Lebensfreude erfüllt hatte. Nun war es jedoch einige Wochen nach
diesem erfolgreichen Eingriff zu einem ausgeprägten Rezidiv der
Herzbeschwerden im Sinne von Brustschmerzen gekommen. Gleichzeitig bestanden
Angstgefühle, die sowohl von dem Patienten wie auch von dem behandelnden
Kardiologen auf die Verunsicherung und die Enttäuschung durch den
Beschwerderückfall verstanden wurden.
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Zu
Kasuistik 3
Die vertiefte Exploration des dritten Patienten ergab, dass er in der
Tat bis zur PTCA eine klassische Belastingsangina hatte. Das nun neu
aufgetretene Beschwerdebild unterschied sich sowohl im zeitlichen Auftreten wie
auch im Charakter der Beschwerden deutlich von der vorher bestehenden
Symptomatik. Er hatte jetzt zwar auch Thoraxschmerzen, nun jedoch eher
stechenden Charakters. Auch waren diese überwiegend linksthorakal, nach seinem
Gefühl im Herzen, und nicht hinter dem Brustbein lokalisiert. Darüber hinaus
bestand eine spontan auftretende intensive Angstsymptomatik. Die weitere
Erhebung der biografischen Anamnese ergab, dass der Patient bisher in einer
quasi angstneurotischen Partnerschaft mit seinem homosexuellen Freund gelebt
hatte. Dieser, ein US-Amerikaner, wollte nun aus bestimmten Gründen wieder in
die USA zurückgehen. Der Patient geriet durch diese Veränderung seines
Lebensarrangements in eine expansive Versuchungssituation und dekompensierte mit
der beschriebenen angstneurotischen Symptomatik sowie der Entwicklung des
beschriebenen funktionellen Schmerzsyndroms. Der Patient konnte die in dieser
Richtung aufgestellte Verdachtsdiagnose, wenn auch sehr ängstlich und ständig
um Rückversicherung bemüht, akzeptieren. Es wurde die Indikation zu einer
analytische Gruppenpsychotherapie gestellt, die zu einer recht raschen Besserung
des Beschwerdebildes führen konnte.
Symptomatik ist oft wechselhaft
Diese drei Fallbeispiele sollen die zwingende Notwendigkeit hoher
medizinisch-somatischer Fachkompetenz in der Handhabung funktioneller
psychosomatischer Erkrankungen verdeutlichen. Zu Recht schreibt die ärztliche
Weiterbildungsordnung innerhalb der fünfjährigen Facharztweiterbildung ein
obligatorisches Jahr Innere Medizin vor. Mit der Einführung des Faches
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in die ärztliche
Approbationsordnung. und der Aufnahme des Gebietes Psychotherapeutische Medizin
in die ärztliche Weiterbildungsordnung hat die deutsche Ärzteschaft die
notwendigen Voraussetzungen hierfür geschaffen. Die unmittelbare Fähigkeit zur
diagnostischen Klärung und routinierten Bewertung körperlicher Beschwerden und
Befunde ist gesamten Behandlungsverlauf einer funktionellen psychosomatischen
Erkrankung erforderlich. Nur so ist ein effizientes und kostengünstiges
Vorgehen gewährleistet. Dies hängt mit bestimmten Charakteristika
funktioneller Erkrankungen zusammen.
Die Symptomatik der Patienten entfaltet sich auf der körperlichen Ebene. Hier
sitzt der Leidensdruck und seine Angst. Im Hinblick auf seinen Körper erwartet
der Patient Hilfe und Schutz durch seinen behandelnden Arzt. Er fordert zu Recht
Sicherheit und Fachkompetenz.
Die Symptomatik weist von Beginn an eine starke Tendenz zur Chronifizierung und
zur Rezidivbildung auf. Jahrelange Verläufe mit unterschiedlicher
Beschwerdeintensität sind verbreitet. Darüberhinaus ist die Symptomatik außerordentlich
wechselhaft. So wechseln sich beispielsweise Phasen von funktionellen Cephalgien
ab mit Thoraxschmerzen, die wiederum von einer Phase starker Angstsymptomatik
abgelöst werden können, woran sich eine Phase
funktioneller Arthralgien anschließen kann.
Weiter ist die Symptomatik funktioneller Erkrankungen in einem sehr hohen Maße
unspezifisch. Die jeweiligen Beschwerden können also einerseits von einem
gutartigen, rein funktionellen Geschehen, andererseits jedoch auch von einer
schweren, prognostisch gänzlich anders einzuschätzenden Erkrankung verursacht
sein. So könnten die bei dem dritten oben beschriebenen Patienten aufgetretenen
Thoraxschmerzen sowohl im Rahmen einer funktionellen Erkrankung beziehungsweise
eines Wirbelsäulensyndroms oder aber auch durch eine koronare Herzerkrankung
oder eine Kardiomyopathie zu interpretieren sein. Die entsprechende medizinische
Fachkompetenz und der sichere ärztliche Umgang mit diesen Beschwerden und
Befunden gehört zu den Kernforderungen, die im Hinblick auf die
psychosomatische Qualifikation des behandelnden Arztes gestellt werden müssen.
Anschrift des Verfassers: Dr. med. Bernhard Palmowski,
Droysenstr. 5, 10629 Berlin
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